Am Dienstag, den 26. Februar 2008 veranstaltete das FORUM46
gemeinsam mit dem Projekt Humboldt-Viadrina School of Governance
und der Heinrich Böll Stiftung den VIII. Interdisziplinären
Salon für Europa.
Unser Thema des Abends:
Dr. Claudio Franzius
Rechtswissenschaftler, Freie Universität Berlin
Dr. Piotr Olszówka
Philosoph, Schriftsteller, Polen
Dr. Gottfried Mayer-Kress
Physiker, Pennsylvania State University, USA
Karlheinz Steinmüller
Zukunstforscher, Z_punkt GmbH, Berlin
Dariusz Radtke
FORUM46 - Interdisziplinäres Forum für Europa e.V.
Am Anfang war das Chaos. Das weiß man. Was bisher niemand erklären kann, ist, wie sich die vorgeschichtliche Mixtur kleiner Moleküle zu größeren Strukturen, zu Aminosäuren und schließlich zu ersten primitiven Lebewesen ordnete. Das Rätselhafte des Übergangs von einem archaischen Durcheinander zu einem geordneten Miteinander bleibt. Und so symbolisiert der Begriff Struktur unsere heutigen Vorstellungen von Netzwerken und Zusammenhängen. Nicht nur in den Naturwissenschaften. Die zunehmende Komplexität der modernen Welt sowie das fortscheitende Agieren von wirtschaftlichen, privaten und öffentlichen Akteuren in globalen Strukturen provozieren geradezu die Frage nach Koordination und Ordnung, Steuerung und Autonomie.
Gibt es unveränderliche Grundstrukturen? Wie gestaltet sich dabei die Frage nach dem Ganzen? Und welches Menschenbild liegt dem zugrunde? Lassen die Erkenntnisse aus Strukturforschung, Systemtheorie oder Philosophie ein mögliches Bild über die Beschaffenheit und das Funktionieren einer Global-Structure erahnen? Und wie gestaltet sich diesbezüglich die Frage nach den Beteiligungs- und Entscheidungsprozessen?
Von Jacob Schilling, FORUM46
In die philosophischen Implikationen des Strukturbegriffs führte Piotr Olszówka ein, indem er die Vorstellung einer außerhalb unserer Wahrnehmung liegenden Welt in den Werken von Platon, Descartes bis zu Popper skizzierte und linguistische Erörterungen über die generelle Grammatik bzw. Ursprache referierte.
Claudio Franzius näherte sich dem Strukturbegriff von einem möglichen Gegenbegriff her. In den Gesellschaftswissenschaften biete sich der Begriff der Handlung an. Im Staatsrecht dient er der Zuordnung von Verantwortlichkeit, im Idealfall könnte die Struktur das Handeln determinieren. Nach seiner Überzeugung ist genau diese Zurechenbarkeit in den modernen Verfassungen, zumal der der Europäischen Union, zunehmend illusorisch geworden. Wenn die Unterscheidung von Struktur und Handlung auch auf Widerspruch stieß, so kam doch in der weiteren Diskussion ein Strukturbegriff zum Vorschein, der weit dynamischer angelegt ist als in der alteuropäischen Semantik.
Am anschaulichsten machte das Gottfried Mayer-Kress, der sein Modell einer „raum-zeitlichen stochastischen Resonanz“ mithilfe einer Animation allgemeinverständlich erklären konnte: Die Strukturen, die für die komplexe Welt des 21. Jahrhunderts relevant sind, befänden sich in einem dauernden dynamischen Veränderungsprozess, die aufrechterhalten werden von verschiedenen Einzelprozessen, die zu dieser Strukturbildung beitragen und ihrerseits von der Struktur beeinflußt werden. Karlheinz Steinmüller beschrieb ebenfalls diese Dialektik von Prozeß und Struktur am Beispiel gesellschaftlicher Innovationen, die sich jeweils in übergeordneten Mustern erklären ließen. Die einprägsamste Formulierung fand Claudio Franzius: Der herkömmliche Strukturbegriff sei obsolet, weil es den lieben Gott auf Erden nicht mehr gäbe. Dieses Zitat aus der politischen Theologie leitete zur Frage über, inwiefern unser Weltbild sich nun in konkreten Institutionen niederschlüge.
Claudio Franzius zeichnete anhand der Netzregulierung in der Europäischen Union den Übergang von klassischen, hierarchisch angelegten Entscheidungsstrukturen, die den Souveränitätsanspruch des Staates zugrundelegen, hin zu horizontalen Verhandlungsstrukturen, wie sie in den „Governance“-Ansätzen der Gesellschaftwissen-schaften diskutiert werden. Die Fragen nach Koordination und Netzwerk wären hier fehl am Platze, insofern sie immer noch eine Letztinstanz suggerierten. Es wäre eben nicht klar, wie das Ergebnis der Netzregulierung am Ende aussähe, bzw.: „Am Ende entscheidet die maltesische Regulierungsbehörde mit über den Strompreis in Deutschland“.
Struktur (also nicht Handlungsdeterminierung, sondern Emergenz verschiedener Prozesse) – politisch könne das ja erwünscht sein, juristisch sei es eine Katastrophe, wie Claudio Franzius meinte. Durchaus können, wie Gottfried Mayer-Kress mit einigen Beispielen unterlegte, auf einer qualitativen, nichtlinearen Ebene Entscheidungen getroffen oder beeinflußt werden. Besonderes Augenmerk richtete er dabei auf die Ausbreitung des Internet und der damit möglichen Vernetzung und auf dynamisches Gruppenverhalten.
Piotr Olszówka verteidigte daraufhin die variable Architektur der verschiedenen Zusammenschlüsse in Europa. Dass die Verfassung in Europa nicht aus einem Guss sei, störe ihn überhaupt nicht – im Gegenteil. Nato, der Schengenraum, die Währungsunion böten verschiedene Netze, die den Ländern eine gewisse Akrobatik erlauben und den Zusammenschluß im ganzen stabiler machen: Sollte ein Netz reißen, bestünden die anderen fort, ohne alles in Frage zu stellen.
Die Diskussion, dass dynamische Strukturen jedoch nicht allein selig machend sind, stieß Karlheinz Steinmüller an, indem er auf schlechte Beispiele dezentralisierter Verfassungen wie beispielsweise in Belgien verwies. Grundsätzlicher warf Piotr Olszówka die Frage nach Fortschritt, Koordination und Freiheit auf. Claudio Franzius fragte, ob unsere klassischen Vorstellungen des Staatsbürgers noch angemessen wären. Die unter Beteiligung des Publikums geführte Diskussion über Identität in dynamischer werdenden Systemen konnte Karlheinz Steinmüller mit seinem Schalenmodell segmentierter Identitäten zum Abschluss gelungen zusammenführen.
Zum Abschluss wurde die Gesprächsrunde zum Publikum geöffnet, um breiter über die sich ergebenden Fragen zu diskutieren: Welche Fähigkeiten müssen wir entwickeln, wie müssen wir uns in Zukunft organisieren? Diese Fragen konnten natürlich nur vorläufig beantwortet werden. Vielmehr gab es bei vielen Beteiligten das Bedürfnis, diese Fragen auch weiterhin präsent zu machen und weiterzuverfolgen. Gottfried Mayer-Kress zeigte anhand der Geschichte des interdisziplinären Santa Fee Institute, dass es eben nicht genügt, eine starre Struktur zu schaffen, wenn innerhalb dieser keine funktionale, problemorientierte Arbeitsweise herrsche. Wie Institutionen beschaffen sein müssen, um individuelle und verschieden disziplinäre Bewegungen zusammenzubringen, wurde nun mehrfach erwogen.
Besonders kritisch gesehen wurde die Entwicklung der Hochschulen: Das Paradox, dass mit einer zunehmenden Europäisierung der Hochschulen zugleich die Möglichkeiten des fächerübergreifenden Lernens beschnitten würden, wurde vielfach beklagt. Mit Prof. Dr. Birger Priddat gab ein Hochschullehrer über die Situation Auskunft, der selber ein etwas längeres, dafür aber auch sehr breit angelegtes Studium absolviert hatte. Er verwies zugleich auch auf Bemühungen im englischen Hochschulsystem, wie die Grenzen zwischen den Disziplinen überwunden werden könnten und durch eine allgemein verständliche Sprache Inhalte zwischen den jeweiligen Experten vermittelbar würden. Womit Synergien mit anderen Teilbereichen überhaupt erst möglich würden.
Wie weit die Hochschulen im Ganzen noch davon entfernt wären, Impulsgeber für die Gesellschaft zu werden, daran erinnerte Claudio Franzius, wenn er auf den Druck verwies, dass Akademiker zuerst und vor allem in ihrer eigenen Disziplin reüssieren müssten.
Ebenfalls aus dem Publikum wurde über die Schaffung von Innovationsclustern in den neuen Bundesländern berichtet, die in vielem der an diesem Abend besprochenen dynamischen Struktur glichen. Hier ließ sich zeigen, dass Koordinationsbemühungen, so verführerisch und politisch gewollt sie seien, oftmals eindimensional gedacht würden.